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Leben im unGleichgewicht.

Manchmal muss ich an meine Kindheit zurückdenken, wie mein Dad mir einst auf einer unbefahrenen Straße das Fahrradfahren beigebracht hat. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wer von uns den Entschluss gefasst hat, dass die Stützräder endgültig abgeschraubt werden (müssen). Jaja, ich weiß, Stützräder … aber in den 70ern kannte man die Theorie noch nicht, dass das Quatsch ist, mit Stützrädern Fahrradfahren zu lernen. Wie dem auch sei – mein Dad hat das jedenfalls so gemacht, wie ich das auch vor ein paar Jahren bei meiner Tochter gemacht hab. Er hat mir gesagt, ich solle mich nur auf die Straße vor mir konzentrieren und in die Pedale treten, er würde mich schon halten währenddessen und aufpassen, dass ich nicht zu sehr nach links oder rechts kippe. Klar hat er dann irgendwann losgelassen ohne was zu sagen und ich bin alleine, ohne Stützräder und ohne seine Unterstützung die Straße runtergeradelt. Und spätestens, als ich keine Antwort mehr von hinter mir vernommen hatte, wurde mir klar, dass ich das Gleichgewicht halten konnte. Dass ich ganz allein nach vorne radeln konnte, ohne nach links oder rechts umzukippen. Und zwar ohne darüber nachzudenken, wie ich das machte. Oder dass ich überhaupt irgendwas machte, was mich vor dem Umfallen bewahrte. Ich folgte einfach meinem Gefühl, meinem kindlichen Instinkt …

Heute fällt es mir dagegen vergleichsweise schwer, automatisch im Gleichgewicht zu verweilen. Ständig taumle ich von einem Extrem ins andere. Um dabei einmal länger in meiner goldenen Mitte zu landen, muss ich mich in der Tat richtig konzentrieren, in mich hineinfühlen um mich zu spüren. Anstelle des kindlichen Instinkts ist echte (Kopf-) Arbeit getreten. Aber warum ist das so? Vielleicht, weil ich immer alles ganz besonders gut machen will. In meiner Vergangenheit wurde mir das ja auch wie ein Mantra eingeimpft. Das ging schon in der Schule los. Vielleicht auch schon davor, aber daran erinnere ich mich heute nicht mehr. Egal, wollte man das Gymnasium besuchen (und natürlich wollte man), reichte es nicht, mit durchschnittlicher Motivation durchschnittliche Leistungen abzuliefern. Also hieß es für mich: Pauken. Nachhilfe. Ferienkurse. Hat mir das ein Abitur beschert? Nein. Habe ich irgendwas daraus gelernt? Hahaha, wieder nein. Denn im Job ging es dann im Prinzip genauso weiter. Wollte man die Karriereleiter erklimmen (und natürlich wollte man), reichte der sogenannte Dienst nach Vorschrift nicht aus. Engagement war gefragt. Die Extrameile gehen. So wie die Agentur an neue Kunden kam (mehr an Umfang und Qualität leisten, manchmal auch für weniger Geld als die Konkurrenz), kam ich an meine neuen Jobtitel. Jetzt da ich das hier so niederschreibe, kommt es mir natürlich völlig absurd vor. Aber damals habe ich das nicht hinterfragt – schließlich haben das alle so gemacht, die „etwas werden“ wollten.

Mein Therapeut sagt, bei mir hat das ganz viel mit Angst, beziehungsweise mit der Angst vor der Angst zu tun. Ha, ich sehe, wie Sie Ihre Stirn runzeln. Ging mir am Anfang auch so … Also, stellen wir uns eine Landschaft in dichtem Nebel vor, eine baumlose Steppenlandschaft. Eingefasst wird dieses nebulöse Etwas auf einer Seite mit einer alten Steinmauer, auf der gegenüberliegenden Seite mit einer undurchdringbaren, stacheligen Hecke. Und weil man panische Angst davor hat, sich, orientierungslos wie man halt manchmal ist, in dieser Suppe, in der man kaum die Hand vor Augen sieht, zu verirren und für immer verloren zu gehen, schubbert man sich lieber – wahlweise an Steinen oder Dornen – Arme und Beine auf, während man sich mühsam weiter vorwärts kämpft. Anstatt einfach darauf zu vertrauen, dass man selbst im Nebel irgendwann den richtigen Weg (wenn schon nicht finden, dann zumindest) gehen wird. Auch wenn das dann vielleicht nicht der kürzeste Weg ist. Nicht die schnelle Bestätigung, die richtige Richtung gewählt zu haben.

Und genau dieser Wunsch nach (schneller) Bestätigung und Belohnung führt bei vielen von uns immer noch dazu, uns in Extreme zu flüchten. Denn die Extreme geben uns Sicherheit, wenn auch eine trügerische. Diese Art schneller und einfacher Bestätigung lässt sich ganz gut mit einer Scheibe Toast vergleichen. Warm, cross und cremig – schneller Zucker, schnelle Belohnung. Auch wenn eine Scheibe Vollkornbrot uns nachhaltig sättigen würde, weil unser Körper daran zu arbeiten hätte, diesen Input entsprechend zu verarbeiten. Das Ergebnis sehen wir jeden Tag im Fernsehen. Oder im Internet. An jeder Ecke wird uns die absolute und einzig wahre Wahrheit verkauft. Und auf jedem Kanal ist es eine andere. Und ich spreche hier nicht von Nachrichten, nur damit wir uns richtig verstehen …

Diejenigen unter uns, die sich mit dem oben erwähnten in-sich-Hineinfühlen um sich mal wieder richtig zu spüren ein wenig schwer tun, weil sie es möglicherweise im Laufe der Jahre verlernt haben oder es, im schlimmsten Fall, überhaupt nie gelernt haben, sehen das Ergebnis im Übrigen vielleicht auch, wenn sie morgens in den Spiegel schauen. Schön ist das dann vermutlich nicht, aber die nächste Scheibe Toast wartet ja bestimmt schon um die Ecke. Denn alles andere würde ja Arbeit an sich selbst bedeuten.

Achtsamkeit, anderen und vor allem sich selbst gegenüber, ist das Vollkornbrot der High-Performer. Nachhaltig, aber oft verschmäht. Dabei bräuchte es gar nicht viel, um die eigenen inneren Ressourcen zu stärken. Augen auf und hin(ein) geschaut. Und gefühlt. Und vielleicht jemanden, der einen ein Stück auf diesem Weg begleitet.

Coaching mit kunsttherapeutischen Mitteln gibt es übrigens hier: www.the-elephant-room.com. Als abgeschlossenen Gruppenkurs oder im Einzelsetting mit zeitlich offenem Ende. Auch für High-Performer.