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»…, wir müssen reden.«

Wer diesen Satz schon einmal so oder so ähnlich gehört hat, ob privat von Partner*in oder Kind oder im Büro von Kolleg*in oder Chef*in, dem saß (oder sitzt vermutlich allein bei dem Gedanken daran noch immer) ein Kloß im Hals. Vervollständigen Sie den Satz am Anfang nach Bedarf gerne mit „Liebling/Schatz, Papa/Mama, Kolleg*in“ oder ganz förmlich mit „Herr/Frau XY“. Klingt erschreckend vertraut, oder? Bestimmt kennen Sie das: Man fängt an zu schwitzen und fragt sich, was denn schon wieder passiert ist. Die Kaffeetasse im Bad stehen gelassen? Tattoo oder Lippen Piercing? Oder gar beides? Eine Deadline gerissen? Den Weltuntergang verursacht? Aber warum ist das so?

Warum denken wir bei diesem Satz so oft an etwas Belastendes? Und warum haben wir so oft ein Problem damit, über vielleicht schwierige Themen zu reden? Einfach nur reden … Viele von uns neigen dazu, nachdem ihnen dieser Satz unheilvoll entgegengeschmettert wurde, spontan die Flucht anzutreten – ein Griff in den Ausredenbeutel à la »Sorry, is grad schlecht.« oder »Klar, gerne. Ich meld‘ mich mit ‘nem Terminvorschlag.« und schon ist er da. Und von alleine geht er nicht mehr weg. Er steht einfach nur da. Still. Regungslos. Und bald füllt er den ganzen Raum aus, nimmt uns die Luft zum Atmen. Erdrückt uns förmlich. Der Elefant im Raum.

Dabei wäre es im Grunde genommen so einfach. Hinsetzen (oder auch stehen), Thema ansprechen, unvoreingenommen, offen und ehrlich diskutieren und so den Elefanten gar nicht erst hereinbitten. Aber, und das erkennt man ja schon am „im Grunde genommen“, so einfach ist es dann meistens doch nicht. Denn wo Fakten fehlen, übernehmen Emotionen das Kommando. Vorurteile, Unsicherheit, Ängste, Scham … aus ihnen besteht das Futter, das den Elefanten nährt. Welche Auswirkungen ein Elefant im Raum auf das Berufsleben haben kann, zeigen unter anderem zwei Studien des unabhängigen Marktforschungsinstituts YouGov, die von LinkedIn in Auftrag gegeben wurden.

Gemäß einer im Jahr 2019 durchgeführten Umfrage sind die Auswirkungen von Stress und andere psychische Probleme im Land von Fleiß und Pünktlichkeit weiterhin ein Tabuthema. Nur 34% der Befragten können mit Kollegen offen über ihr mentales Wohlbefinden sprechen – mit dem Arbeitgeber können das sogar nur ein Viertel (25%). Vielmehr steht die Angst im Raum, dass ein offener Umgang mit dem Thema negative Folgen haben könnte. 17% geben an, dass Kollegen benachteiligt wurden, weil sie offen über psychische Krankheiten gesprochen haben.

Zwei Jahre später hat sich die Situation nicht verbessert, im Gegenteil. Obwohl psychische Probleme mehr denn je allgegenwärtig sind, sprechen wir nicht offen darüber. In einer weiteren Umfrage aus dem Jahr 2021 gaben 39% der von psychischen Erkrankungen Betroffenen an, sich am Arbeitsplatz nicht offen über dieses Thema reden zu trauen. Hauptgrund ist die Angst vor negativen Folgen für die Karriereentwicklung. So denken 43% der Betroffenen, dass es Ihnen schaden würde, am Arbeitsplatz offen über psychische Belastungen zu sprechen. 46% geben sogar zu, in der Vergangenheit bereits falsche Aussagen gemacht und beispielsweise körperliche Beschwerden vorgeschoben zu haben, als es um die eigene psychische Gesundheit ging. Burnouts und andere psychische Belastungen sind also weiterhin ein Tabuthema und werden als Karrierehemmnis angesehen. Hinzu kommt, dass mehr als jeder Vierte nicht das Gefühl hat, über psychische Belastung reden zu können – weder mit Führungskräften noch mit Kollegen. Zudem fehlt die Möglichkeit zum Austausch mit unabhängigen Beteiligten: Mehr als die Hälfte der Angestellten gibt an, dass ihr Unternehmen keine externen Ratgeber für psychische Gesundheit zur Verfügung stellt.

»Unser Arbeitsplatz spielt eine große Rolle für unsere psychische Gesundheit. Fühle ich mich dort nicht ernst genommen oder nicht unterstützt, kann das meine Belastungen sogar noch verstärken. Deshalb sind Arbeitgeber gefragt, ein positives, offenes Umfeld zu schaffen«, so Psychologin und CEO von Selfapy Nora Blum. Sie rät zu Präventionsmaßnahmen: »Das Schaffen von Wissen und Bewusstsein über Risikofaktoren ist entscheidend. Zusammen mit einem offenen, tabufreien Umgang können so leichte bis mittlere psychische Belastungen gut abgefangen werden. Dadurch wird verhindert, dass ein zu langes Schweigen die Symptome weiter verschlimmert.« Blums Ansicht nach sollten Arbeitgeber beispielsweise im Blick behalten, dass durch Digitalisierung und Remote Working die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben verschwimmen – ein Risikofaktor für psychische Belastungen.

»Niemandem ist damit geholfen, dieses allgegenwärtige und sehr wichtige Thema totzuschweigen. Arbeitgeber sollten sich bemühen, ein Klima des Vertrauens zu schaffen und durch proaktive Kommunikation zu einer Entstigmatisierung beitragen – damit helfen sie nicht nur ihren Mitarbeiter*innen, sondern sie profitieren davon letztendlich auch selbst, da sie so Krankheitstage verringern können und die eigene Arbeitgebermarke nachhaltig stärken«, sagt @Barbara Wittmann, Country Managerin LinkedIn DACH.

Ein Unternehmen, welches sich der Problematik nicht nur bewusst ist, sondern bereits entsprechende Schritte eingeleitet hat, ist die ProSiebenSat.1 Media SE. Parallel zum World Mental Health Day am 10. Oktober starteten dort dieses Jahr bereits zum vierten Mal die Mental Health Days, eine Veranstaltungsreihe zu psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz. In den folgenden Tagen gab es dann unter anderem Meditations- und Achtsamkeitssessions, den Workshop „Be kind to yourself – Innere Antreiber kennen und entschärfen“ und ein Training mit dem Titel „Selbstfürsorge im Job“. Darüber hinaus gibt es das ganze Jahr über zusätzlich Resilienz- und Ressourcentrainings.  »Psychische Gesundheit ist oft noch ein Tabu« sagte Personalvorständin Christine Scheffler gegenüber der Süddeutschen Zeitung. »Wir waren überwältigt, wie gut das Thema angenommen wurde.« Rund 2.500 Teilnehmer hatte das Programm schon in den ersten drei Runden, insgesamt beschäftigt die ProSiebenSat.1 Media SE rund 7.800 Menschen. Die  darf diesbezüglich sicher als leuchtendes Beispiel über die Landesgrenzen hinaus vorangehen, doch sind sie nicht die einzigen, die sich der Wichtigkeit dieses Themas bewusst sind.

Wie das Thema „seelische Gesundheit am Arbeitsplatz“ bei anderen Unternehmen in der DACH-Region angegangen wird, möchte THE ELEPHANT ROOM beim 1. Internationalen HR-Frühschoppen herausfinden. Bei der online durchgeführten Veranstaltung handelt es sich explizit nicht um ein vorab aufgezeichnetes Webinar, das seine Teilnehmer mit lauwarmen Informationen berieselt und an dessen Ende dann den vom Zuhören erschöpften Teilnehmern Dienstleistungen oder Produkte angedreht werden, die im Grunde niemandem in irgendeiner Art weiterhelfen. Der HR-Frühschoppen soll den Teilnehmern vielmehr als Plattform dienen, auf der Geschäftsführer und HR-Spezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in lockerer Atmosphäre auf Augenhöhe Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig inspirieren können. Als Keynote Speaker konnte THE ELEPHANT ROOM einen der Gründer des Burnout Netzwerks, Pat Wind, gewinnen.